Die EU - „Eigenartig und einzigartig“

25. Januar 2010
Von Helene Pfeiffer

Von Helene Pfeiffer

Seit knapp zwei Monaten ist der Lissabon-Vertrag in Kraft. Bietet er die geeignete Grundlage, um die Europäische Union im neuen Jahrzehnt politisch handlungsfähig zu machen und ihr die demokratische Legitimation zu verschaffen? Der Politologe Peter Graf Kielmansegg zweifelt, die frühere EU-Kommissarin Michaele Schreyer ist zuversichtlich und der Staatsrechtler Ulrich K. Preuß empfiehlt Nachsicht. Ein Streitgespräch in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Berlin - Die Überraschung kam am Tag nach der Diskussion: Da schien es, als wollte es die Politik in Brüssel unbedingt allen Dreien Recht machen, die am Abend zuvor in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin darüber gestritten hatten, wie es um die Demokratie in der Europäischen Union steht, „nach den Wirren um den Lissabon-Vertrag“. Dass sich durch die neuesten Volten in Brüssel jeder der drei Podiumsgäste bestätigt fühlen konnte, war durchaus verwunderlich – unterschieden sich ihre Ansichten doch fundamental.

Der Politologe Peter Graf Kielmansegg, die Volkswirtin und ehemalige EU-Kommissarin Michaele Schreyer (Bündnis 90/ Grüne) und der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß debattierten darüber, ob sich die Europäer der 27 Mitgliedsländer in ihrem Staatenbund künftig besser politisch engagieren und wiederfinden können als noch vor dem 1. Dezember 2009. Seitdem greift der Lissabon-Vertrag. Er steht nun anstelle einer Verfassung, die sich die EU 2007 zu geben noch nicht in der Lage sah. Ihre Befürworter waren damals am „Nein“ einiger Mitgliedsländer gescheitert.

Die EU – eine Demokratie oder eine Eurokratie?

Ist Lissabon nun ein guter Zwischenschritt auf einem richtigen Weg? Oder entfernt der neue Vertrag die 500 Millionen Unions-Europäer weiter von ihren immer mächtiger werdenden Institutionen? Entwickelt sich die Europäische Union zu einer Demokratie oder zu einer Eurokratie? Hinkt das Wir-Gefühl dem rasanten Wachstum der Union nicht längst hinterher? Diese Fragen standen im Raum zwischen dem Skeptiker Kielmansegg, dem abwägenden Preuß und der zuversichtlichen Michaele Schreyer.

Die erste Brüsseler Krise des Jahres 2010 maß darum am Tag nach der Debatte die Argumente und Vermutungen der Podiumsgäste an der rauen Wirklichkeit: Da drohte dem EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso eine Niederlage, weil das Parlament ein designiertes Mitglied seiner neu zu bildenden Kommission für unfähig hielt und dies kundtat. Das Parlament erreichte damit immerhin den Rücktritt der Kandidatin.

Das war eine gute Illustration für den Abend in Berlin. Der Politikwissenschaftler Kielmansegg zweifelte nämlich daran, ob derlei Personalrochaden Anzeichen für mehr Einflussmöglichkeiten der Wähler sind. Kielmansegg sieht schon in den Verfahren, wie sich ein Staat oder Staatenbund konstituiert, „eine allein zwar nicht hinreichende, aber zwingend notwendige Bedingung“ dafür, ob er sich demokratisch legitimieren kann. Die Verfahren in Europa – die Wahl des Europäischen Parlamentes, die Ernennung des Präsidenten der Europäischen Kommission und der EU-Kommissare durch den Europäischen Rat, also ohne direkten Einfluss des Wählers –  erfüllen laut Kielmansegg diese Bedingung nicht. Auch wenn das Europäische Parlament eine überaus wichtige Rolle im „check and balance“ der EU-Institutionen spiele.

Das Demokratiedefizit: EU-Wähler ohne Einfluss?

Es gebe da so etwas wie einen Lackmus-Test für Demokratie, sagte er: „Kann der Wähler eine Regierung ablösen, ja oder nein?“ Für Brüssel gelte noch immer: nein. „Ich habe mit meinem Votum keine Möglichkeit, Politik zu steuern.“ Er sehe das als „absolute Schwachstelle“. Da aber immer mehr Kompetenzen und Hoheitsrechte der Staaten an diesen Staatenverbund abgegeben würden, sei das Demokratiedefizit bedenklich. Ob Übertragungen in der Gesetzgebung, der Sicherheitspolitik oder an die Wirtschaftsgemeinschaft: „Die Entwicklung geht bislang nur in eine Richtung“, warnte Kielmansegg, weg von den nationalen Mitgliedsstaaten, hin zur Europäischen Union. Der Integrationsprozess sei gleichsam irreversibel, politische Richtungsentscheidungen orientierten sich nur noch an der Frage, welche Politikbereiche als nächstes vergemeinschaftet würden.

Das Bundesverfassungsgericht scheint dem Politologen Recht zu geben, denn es hatte in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag dem Europäischen Parlament ein Demokratiedefizit bescheinigt und deshalb jeden weiteren Integrationsschritt von seiner Zustimmung abhängig gemacht.

Michaele Schreyer widersprach beiden: Laut Lissabon-Vertrag müsse der Europäische Rat bei der Benennung des Kommissionspräsidenten berücksichtigen, dass dieser aus der stärksten Fraktion im Europäischen Parlament hervorginge. Also habe der Wähler einen Einfluss auf die Besetzung der Europäischen Kommission (die aufgrund ihrer Initiativrechte noch am ehesten als Exekutivorgan der EU bezeichnet werden kann), denn er wählt die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes. Und: Die Kommission könne sehr wohl vom Europäischen Parlament abgesetzt werden. „Das ist doch schon passiert.“ Im neuen Vertrag sei zudem die Bürgerinitiative vorgesehen und solle dieses Jahr konkretisiert werden. „Außerdem muss jede Übertragung von Hoheitsrechten an die EU von den nationalstaatlichen Parlamenten abgesegnet werden.“

Also alles unter Kontrolle?

Hat der Souverän, das Volk, die Hand drauf? Geht auch in der EU alle Gewalt vom Volke aus? Gewaltenteilung garantiert? Schon jetzt ging im vergangenen Jahr in Deutschland nicht mal die Hälfte der Wähler zur Europawahl, in manchen anderen Ländern war es sogar nur ein Drittel. Michaele Schreyer kritisierte, „auch im Hinblick auf meine Partei“, dass in Deutschland nur mit deutschen oder mit gar keinen konkreten Themen Wahlkampf für das Europa-Parlament betrieben wurde. „Im Grunde sagt jeder Kandidat bloß: Europa ist gut und wichtig.“ Bekenntnisrituale für Graf Kielmansegg. Der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß von der „Hertie School of Governance“ in Berlin erläuterte, dass die Europa-Wahl „als klassische Nebenwahl gilt“: Sie wird nicht wichtig genommen, weil der Wähler nicht weiß, ob seine Stimme Gewicht hat. Preuß forderte, dass die Kandidaten eindeutig Ziele ihrer Politik nennen sollten. „Warum nicht antreten und klar sagen, ich möchte EU-Kommissar werden und das und das durchsetzen?“ Der Wähler müsse wissen, für welche Politik die jeweilige Partei und die jeweiligen Kandidaten stehen, die sie wählen.

Der einstige 68er warnte aber zugleich davor, an die Europäische Union Ansprüche zu stellen, die nicht erfüllbar wären. „Die Union ist nicht mehr bloß ein Bund von Staaten, aber auch noch lange kein Bundesstaat. So etwas gab es doch noch nie!“ Sie habe sich als Friedensbund und Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, berge heute in sich gleichzeitig Elemente einer Föderation und einer repräsentativen Demokratie und strebe zudem nach mehr direkter Demokratie. „Das ist etwas Eigenartiges und Einzigartiges.“ Ein Gebilde sui generis also. Es hörte sich ein wenig so an, als sehe er die EU wie ein freundliches riesenhaftes Wesen mit multipler Persönlichkeit, wobei jede dieser Persönlichkeiten nicht unrecht ist und man nur zu warten braucht, bis sich die beste gleichsam herausschälen wird.

Auch Michaele Schreyer wehrte sich gegen den Eindruck, die EU sei eine verselbständigte Bürokratie, die fern der Bedürfnisse ihrer Bürger und Bürgerinnen ein Eigenleben führe und Verordnungen, Normen und Richtlinien nur darum erlasse, um die Existenz ihrer Beamten zu rechtfertigen. „EU-Themen werden oft nur dann populär, wenn sie den nationalen Politikern nützen. Dann werden sie übrigens auch gerne als eigene Entscheidungen verkauft.“ Sie nannte als Beispiele die Fahrgastrechte oder die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Auf vielen Gebieten wäre es aber längst sinnlos, nur nationalstaatlich zu handeln, sagte Schreyer. „Die Finanzmarktaufsicht muss jetzt europäisch geregelt werden.“ Vor der Wirtschaftskrise hätten die meisten Staaten da sicher noch anders argumentiert. Aber so sei eben bei der Gestaltung der EU „nichts final“ und alles „ein dynamischer Prozess“.

Darauf reagierte Graf Kielmansegg dezidiert: „Prozess klingt so nach Mechanismus, so unwillkürlich. Aber dahinter stecken Akteure mit handfesten Interessen!“ Der Professor von der Universität Mannheim warnte, die EU leiste sich eine Lebenslüge. „Sie unterstellt, dass ihr gesteigerter Aufbau eine gesteigerte Handlungsfähigkeit bedeutet.“ Doch sei es naiv zu glauben, dass die Verdopplung ihrer Mitglieder seit 2004 durch den Beitritt neuer Mitgliedsländer nicht einen Preis hätte.

Michaele Schreyer, die von 1999 bis 2004 selbst EU-Kommissarin war, verwarf die Kritik. „Die Aufgaben der EU entstehen aus den Bedürfnissen der Bürger heraus. Da gibt es konkrete Erwartungen an uns“. Sie nannte aus eigener Erfahrung die EU-Verordnungen zur Mitnahme von Betriebsrenten. Das zügig zu regeln, habe der zunehmend globalisierte Arbeitsmarkt dringend erfordert. Und Staatsrechtler Preuß wies Kielmansegg darauf hin, dass in der EU-Kommission durch den Lissabon-Vertrag jetzt Mehrheitsentscheidungen möglich seien, statt der früher zwingend einstimmigen Voten. „Da versucht man schon, der neuen Größe Rechnung zu tragen.“

Die EU sollte sich den großen Fragen widmen

Kielmansegg forderte, der Staatenbund solle sich nicht wie jetzt um alles kümmern, sondern sich auf wenige große Projekte für jedes Jahrzehnt einigen und konzentrieren. Eines der nächsten großen Projekte könne zum Beispiel die Energiepolitik sein. In diesem Punkt zumindest stimmten sie überein, denn Michaele Schreyer unterstützte die Idee einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik und warb für ein grünes Projekt, nämlich für eine Europäische Gemeinschaft der Erneuerbaren Energien (ERENE).  Michaele Schreyer gab dann aber auch noch zu bedenken, dass sich ein Gefühl für Europa beim Einzelnen ohnehin nur dann einstellt, „wenn ihm das Recht gegeben wird, wirklich Bürger der Europäischen Union zu sein und wenn sich daraus für ihn Rechte ableiten.“

Am Tag nach der Debatte gab es neben der Barroso-Niederlage übrigens noch eine Nachricht aus Europa, die die Ansichten aller drei Gäste der Podiumsdiskussion spiegeln könnte - den Skeptiker, den Abwägenden, die Optimistische: Der Europäische Gerichtshof hat am 19. Januar den Kündigungsschutz für junge Arbeitnehmer gestärkt - und erstmals den Deutschen diktiert, eine anders lautende Vorschrift aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu kippen. Das durfte bisher nur das Bundesverfassungsgericht.

Ist eine solche verbindliche Europäische Rechtssprechung nun der Anfang vom Ende der guten, alten Bundesrepublik? Oder ist es fortschrittlich und ein Sieg einer neuen europäischen Rechtsstaatsgemeinschaft?  Ulrich K. Preuß jedenfalls gab dem kritisch-interessierten Publikum eine Bitte mit auf den Heimweg durch den Berliner Schneematsch: „Wir sollten nicht der Illusion Vorschub leisten, dass der Nationalstaat noch immer die einzig ideale Konstruktion ist, um Demokratie herzustellen. Das ist ein Trugschluss.“

Slideshow: Die EU - „Eigenartig und einzigartig“

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